Ein Beitrag von Peter Schmidt
photo credits go Peter Schmidt
Abschlussarbeiten gehören zum Studium. ÖAMer Peter Schmidt erzählt von seiner Interview-Reise und davon, warum er es trotz Aufwand lohnenswert fand, die Interviews persönlich und am Ort des Geschehens zu führen.
Bio für Alle? Alle für Bio?
Fast geschafft: nach sechs Semestern Studium in Teilzeit, die neben einem mal entspannten, mal sehr einnehmenden Job liefen, ist jetzt noch die Abschlussarbeit zu schreiben, dann steht ein Praktikum an und „Bäm“ – Master of Sience Öko-Agrarmangement.
Die Fragen, die meine Masterarbeit zu beantworten versucht, lauten: Wie schaffen es Betriebskantinen, über 50 Prozent und teilweise sogar bis zu 100 Prozent Bio-Produkte einzusetzen? Wie genau sieht der Umstellungsprozess auf eine Bio-Verpflegung in ausgewählten Betriebskantinen aus? Was sind die Herausforderungen, was die einzelnen Prozesse? Diese Überlegungen sind der rote Faden, der sich durch die Arbeit zieht. Der Forschungsfokus liegt auf der Erfassung des Verlaufs des Umstellungsprozesses an ausgewählten Fallbeispielen. Das Vorgehen, das ich dabei anwende, nennt sich Change-Explore-Verfahren und vereint mehrere Methoden, so zum Beispiel qualitative Interviews und die Strukturlegetechnik. Ihr seht – mein Theorieteil ist schon fertig.
Forschungsreise quer durch die Republik
Aber wann bleibt bei all dem noch Platz für Freizeit? Eigentlich ist für uns so ein Studium mit den Wochen zwischen den Vorlesungen und Semestern doch auch dazu da, um sich selbst kennen zu lernen und persönlich zu entwickeln, neue Länder zu entdecken und sich in Ruhe über Kommendes Gedanken zu machen. Aber zum Glück müssen für so eine Masterarbeit auch Menschen befragt werden und wie es bei Expert*innen oft ist, sind diese meist in unterschiedlichen Betrieben und Institutionen überall in der ganzen Republik verteilt. Denn Betriebsgastronomien, wie ich sie definierte, sind (noch) nicht an jeder Ecke in Berlin oder Eberswalde zu finden. Die Hauptkriterien für die ausgewählten Betriebe: mindestens 50 Prozent Bioanteil gerechnet auf den Wareneinsatz, mindestens 300 Essen pro Tag und eine Frisch-Mischküche vor Ort. Die ausformulierte wissenschaftliche Grundlage hierfür findet Ihr hoffentlich bald in der Bibliothek Eures Vertrauens. Na, dann verbinde ich eben einfach das Schöne mit dem Nützlichen und begebe mich auf eine Reise, von Küche zu Küche, von Koch zu Köchin, um meine Fragen nach den Anforderungen des wissenschaftlichen Arbeitens zu beantworten.
Face to face Forschung
Keine Interviews am Telefon oder per Skype, sondern persönlich vor Ort, vis-à-vis mit den Interviewpartner*innen. In deren alltäglichen und gewohnten Arbeitsumfeldern, guter Ausgangspunkt für eine positive Interviewatmosphäre, und bestimmt lerne ich auch noch etwas mehr über die Unternehmen. Also los geht’s, passende Personen recherchieren, die auch den im Theorieteil festgelegten Merkmalen entsprechen. Dann Terminanfragen verschicken, warten. Weitere Fragen zum Masterarbeitsthema und die Fragestellung am Telefon erläutern, nochmal eine paar Rückfragen und dann die Bestätigung per E-Mail verschicken und, letztendlich, die Reise quer durch Deutschland planen.
Berufliches und Privates verbinden
Nach ein paar Stunden steht die Tour fest: Innerhalb von zwei Wochen von Berlin nach Düsseldorf, weiter bis Ingolstadt, dann Pfaffenhofen und Pullach bei München und zurück in die Hauptstadt. Nach zwei kurzen Tage Pause und Wiederbestückung mit Interviewmaterialien, einem aufgeladenen Diktiergerät und Moderationskarten bewaffnet soll es weiter nach Hannover gehen, über einen Zwischenstopp in Solingen nach Köln, es folgt nochmals eine Übernachtung in Solingen, und das letzte Ziel heißt Wuppertal. Geschafft, und ab geht es wieder zurück nach Hause. Während diesen zwei Wochen dreht sich alles darum, Interviews vorzubereiten, zu führen, aber auch Freund*innen zu besuchen, im Zug schon einmal Kommentare zu transkribieren und Eindrücke von den Interviews auszuformulieren. Während der Zugfahrten bleibt hoffentlich genug Zeit zum Reflektieren, aus dem Fenster zu schauen und die Landschaft an sich vorbeiziehen zu lassen.
Mahlzeit in der Biokantine
Die Umsetzung: Los geht es mit Zügen buchen, Umsteigezeiten einplanen, Interviewdauer berücksichtigen, Freund*innen anrufen, Schlafsack einpacken und nochmal alles durchgehen was mit auf die Reise kommen muss. Was die Verpflegung angeht, habe ich mir auf jeden Fall ein gutes Thema herausgesucht – alle Interviewpartner*innen haben mich entweder vor oder nach dem Interview erst einmal zum Mittagessen in die eigene Kantine eingeladen und gezeigt, was Bio in der Betriebsgastronomie bedeutet, wie sie es umsetzen und auf hohem Niveau und mit Topqualität Essen mit Bio-Lebensmitteln kochen. Es wird deutlich, dass in allen Kantinen der Service am Gast oberste Priorität hat und die Mitarbeiter*innen hinter dem stehen, was an Mahlzeiten ausgegeben wird. Neben dem Essen laufen Gespräche weiter, auch wenn das Diktiergerät schon längst aus war.
Über Bio, aber auch über Motivationen, Lebenseinstellungen und die Herausforderungen unserer Zeit. Am Ende dann wieder über die Lösung für manche dieser Probleme, über ökologischen Landbau, Bio-Lebensmittel und die dazu passende Lebensphilosophie. Partnerschaftliche Zusammenarbeit statt Handelbeziehungen, Mitarbeiter*innengesundheit und Lebensqualität statt Gewinnmaximierung oder der teils schwierige Kompromiss zwischen beidem. Die Ansprüche der Küche und ihrer Mitarbeiter*innen, die der Geschäftsleitungen und der Gäste.
Diktiergerät statt GoPro
Nach den leitfadengestützten Interviews folgt die Strukturlegetechnik nach Groeben / Scheele zur Strukturierung von Wissen und der Visualisierung von Abläufen. „Als wichtigsten Punkt bei der Umstellung auf Bio in unserer Kantine, der über allen einzelnen Prozessen steht, ist die Kommunikation und Transparenz. Sowohl intern im Küchenteams als auch gegenüber den Gästen die bei uns essen“ erläutert mein zweiter Interviewpartner und blickt dabei auf das große, vor uns liegende Plakat zu „seinem“ Umstellungsprozess und die vielen bunten Kärtchen daneben. Nach der Strukturlegetechnik und einem leckeren Mittagessen verabschiede ich mich.
Und weiter geht es zum Zug in die nächste Region, in die nächste Stadt, zu den nächsten Freund*innen, auf zum nächsten Interview, zum nächsten Mittagessen – hoffentlich.
So reise ich, treffe interessante Menschen, schlage mich mit Bus und Bahn herum und lerne die Kulinarik verschiedener Betriebsgastronomien kennen. Alles ist wie bei einer „richtigen“ Reise, nur bin ich im Auftrag der Wissenschaft unterwegs. Mit Diktiergerät statt GoPro, Interviewleitfaden statt Travelguide und Moderationskärtchen statt international gültiger Kreditkarte. Aber nicht mit weniger Spannung, Komplikationen und Freude über hilfsbereite Mitmenschen. Aufregung, wie das nächste Interview laufen wird, ob der Zug auch kommt (leider nicht immer), ob das nächste Ziel rechtzeitig erreicht und wen ich vor Ort antreffe.
Koffer voller Eindrücke
Nach zwei Wochen habe ich alle Interviewtermine wahrgenommen und mir etwas Auszeit verdient. Aus den Kopfhörern spielt Neonschwarz „On a Journey“ als Einstimmung auf etwas ruhigere Tage und das kommende Wochenende. Spätabends soll ich von der letzten Etappe Wuppertal-Berlin zuhause ankommen – jedoch fiel der ICE aus. Aber nun, ab von Wuppertal nach Düsseldorf, mit einem alternativen ICE endlich zurück Richtung Berlin. Im Gepäck: Viele Eindrücke, gesammeltes und als MP3 gespeichertes Wissen einiger mutiger Bio-Pionier*innen aus der bundesweiten öffentlichen und privaten Betriebsgastronomie. Nochmal checken, ob das Diktiergerät auch wirklich im Rucksack ist, puh, Glück gehabt. Und jetzt alles transkribieren, Prozessbilder der Strukturlegetechnik digitalisieren, vergleichen und auswerten, den Ergebnissteil formulieren, im Diskussionsteil alles kritisch reflektieren und dann noch einmal alles zusammenfassen. Aber erst einmal schlafen, heute würde ich vermutlich kein sinnvolles Transkript, geschweige denn einen Text zu Stande bringen oder einfach beim Anhören der Aufzeichnungen wie bei einem semi-spannenden Podcast einschlafen.
Menschen, Bilder, Visionen
Beim weiteren Schreiben der Masterarbeit klingen die gesammelten Eindrücke immer mit, es geht nicht mehr nur um das Transkript, den Satz, die Kategorie und die Auswertung nach - wer kennt sie nicht - Kuckratz oder Mayring. Stattdessen sehe ich zu den Textstellen und Aussagen immer auch eine Person, deren Begeisterung, eine Vision, ein Essen, einen Ort, eine Geschichte. Eins steht fest: Der Umstellungsprozess ist immer anders. Kein Weg gleicht dem anderen. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Das Arbeiten in partnerschaftlichen Beziehungen, gemeinsam mit Lieferanten und Erzeugern aus den jeweiligen Regionen. Das Abholen der Gäste über die Produkt sowie Prozessqualität der eigesetzten Lebensmittel und dem Geschmack der daraus gekochten Gerichte. Eine solche Umstellung muss natürlich auch immer richtig kommuniziert werden. In einer Betriebskantine passiert die in zwei Richtungen, sowohl in Richtung der Gäste als auch innerhalb des Küchenteams. Beide Gruppen müssen mitgenommen werden, denn ohne sie funktioniert das ganze Vorhaben nicht. Das geschieht auf unterschiedliche Weisen. Entweder durch Fortbildungen, Workshops, das Hospitieren in anderen Küchen, Vorstellen der Produzenten in den Speiseräumen der Kantinen oder Exkursionen zu Erzeugern. Auch der Speiseplan und die Art der Speiseplanung änderte sich, mehr Flexibilität ist nötig. Bei allen Interviewpartnern, wurde der Fleischanteil sukzessive reduziert, oder mit Ganztierverwertung gearbeitet.
Go Gemeinschaftsgastronomie go!
Am Ende braucht es immer eine mutige Person mit einer Vision die es schafft diese auch anderen Menschen zu vermitteln und sich auf den Weg macht und ein Unternehmen das hinter diesem Weg steht. Das lässt sich zumindest nach den ersten Eindrücken und dem lesen der Transkripte sagen. Nun folgt die Aufbereitung und Auswertung der Ergebnisse hin zu praxistauglichem Material für umstellungsinteressierte Betriebsgastronomien … damit hoffentlich (bald) noch mehr ökologisch produzierte Produkte in der Gemeinschaftsgastronomie zu finden sind.
Bildungsreise ackerdemiker.in Version
Auf einmal sind Forschung und wissenschaftliches Arbeiten gar nicht mehr so trocken. Und es gilt tatsächlich: Reisen bildet. So oder so, ob mit semi-strukturiertem Interviewleitfaden und dazu passenden Aufrechterhaltungsfragen oder dem Travelguide mit den „Geheimtipps“, die spätestens dann keine mehr sind, wenn dieser gedruckt wird.
Kurzer Werbeblock
Meine Bilanz in Zahlen: über 3.000 Schienenkilometer, unzählige Bahn- und Bustickets, sechs motivierte Köch*innen, sechs Betriebskantinen, 300 Minuten Interviewmaterial und sechs große Plakate, auf denen der Umstellungsprozess visualisiert wurde. Meine Masterarbeit ist in vielerlei Hinsicht eine lange und spannende Reise. Fertig wird sie im Sommer 2019.
Wer Interesse hat, kann mich gerne anschreiben: peter.schmidt@hnee.de
Wer (noch) mehr wissen möchte: Groeben, N. & Scheele, B. (2010). Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (S. 151–165). Wiesbaden: VS Verlag.
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